Page 114 - My FlipBook
P. 114
106
Heute finden wir diese Veränderiuiii der Zähne hei vielen Völkern ahsichtlich
herbeigeführt.
Hier sei besonders darauf hingewiesen, dass in Amerika die Verkürzung der Zähne
bei einigen Stämmen absiehtlich herbeigeführt wird, bei anderen dagegen nur das Resultat
der Aufnahme roher, besonders sandiger Nahrung ist.
Die Abnutzung der Zähne, die ursprünglich einen rein physiologischen Prozess dar-
stellte, wurde allmählich bei den betreffenden Völkern eine unentbehrliche Erscheinung, die
man. um sie schneller herbeizuführen, schliesslich künstlich erzeugte und als ein Verschönerungs-
mittel betrachtete: denn die ästhetischen Begriffe hängen zunächst ganz von der Gewohnheit
des Anblickes ab.
Ich stehe deshalb nicht an. diese Deformationsform in einen unmittelbaren Zusammen-
hang mit einer früheren, in einzelnen Fällen vielleicht in eine hypothetische Vorzeit zurück-
zuführende rohe oder vegetabilische Ernährungsweise zu bringen.
Mir erscheint es andererseits nicht ausgeschlossen, dass man die natürliclie Abrasion
vielfach als künstliche Verunstaltung angesehen und beschrieben hat. Denn die natürliche
Abrasion kann so schnell vor sich gehen, dass die Pulpenhöhlen der Frontzähne wie auch der
Backenzähne vollkommen freigelegt werden, da zur Bildung von Ersatzdentin nicht geuügeiul
Zeit bleibt.
Derartige Gebisse sehen allerdings leicht so aus. als seien sie absichtlich verunstaltet.
Doch kann hier immer die Art des Zahnreihenschhisses Aufschluss geben über die Entstehung
der in Rede stehenden Abnormität.
Auch das Ausbrechen von mehreren Zähnen dürfte mit einer früheren vegetabilischen
Ernährungsweise in Verbindung stehen: Virchoir deutet bei der Beschreibung des Batoka-
und Dinkagebisses darauf hin.
Der künstliche Prognathismus scheint ebenfalls als Nachahmung des natürlichen
entstanden zu sein, und vielleicht hängt dieser mit der frühzeitigen Aufnahme roher Fleisch-
oder vegetabilischer Nahrung zusammen. Hier mag folgende Notiz von Joseph Tltoniso)i die
.Möglichkeit dieser Annahme bestätigen: „Als das Massaikind über seiner Mutter Milch hinaus
war, übte es seine hervorbrechenden Zähne an einem grossen Klumpen Rindfleisch. Freilich
war dies eine sehr tadelnswerte Neigung unseres jungen Freundes, denn sie ist jedenfalls
an jenei' hässlicheu Stellung der Zähne schuld, welche er mit seinen übrigen Stammesgenossen
gemein hat. Da das Zahnfleisch noch zart, das Rindfleisch aber zähe war. so nehmen die
Zähne eine Stellung nach aussen an. welche nicht hübsch aussieht und. was noch schlimmer
ist. sie von einandfM' zu trennen scheint, bis sie wie vereinzelte Fanuzähne aussehen." (244)