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vor den anderen vor. nnd die Lippe ist aufgeworfen, weil alle Zähne zu weit vorstehen.
Dieses kommt daher, dass wir beim Essen alles mit den Zähnen abreissen und abziehen, und
so sehen wir schon in der Jugend wie Hunde oder Affen aus, wie man uns auch schilt: das
Feilen gibt dem Munde nun wieder eine menschliche Form." Ähnliches wird vielerseits berichtet.
Diese unserm europäischen Empfinden entsprechende Anschauung scheint allen
malayischen Stämmen eigen zu sein, unter den Negervölkern dagegen ist sie nur vereinzelt
anzutreffen. Manche unter ihnen sind sogar der entgegengesetzten Ansicht, dass nämlich ein
prognathes Profil ausserordentlich gefallen müsse: sie sind deswegen auch bestrebt, die Vorder-
zähne und mit ihnen den Zwischenkiefer möglichst weit vorzudrängen.
Das Ausschmücken der Zähne mit Metall oder Stein halte icli für eine erst später
entstandene Sitte, die lediglicli den Zweck hat, der Schönheit zu dienen.
Die in Afrika sich findende Zacken- und Lückenfeilung scheint auf einer unrichtigen
Vorstellung von Tod oder Krankheit zu beruhen, wenigstens nach den Ausführungen des
Missionars Brinker, der hierüber folgendes berichtet (246): „Die Bantustämme. die westlichen
fast alle, haben die Sitte, bei einem gewissen Alter und unter gewissen Zeremonien die
mittleren zwei Schneidezähne, wie bei den Ovaherero in Form von /\ in der oberen Zahnreihe
und bei den Ovambo von SJ in der unteren Zahnreihe, ausfeilen zu lassen."
Der Akt des Ausfeilens der betreffenden zwei Schneidezähne wird in Otji-herero durch
„oku-h'a (Oku-hia, Passiv oku-hiua)", in Oschindonga durch „oku-kulua", in Umbunde durch
„oku-pejeka" = „Öffnung machen" bezeichnet. Die dadurch entstandene Lücke /\ heisst in Otjj
„oruvara" = ,,farbiger Flecken" oder auch Ansehen, etwa Macht; in Oscliindonga V „Oscheelo"
= Tür; in Oschikuanjama „Oschivalakifi" = Oschivala-Flecken, e kifi = „der Ursache des Todes".
Oschivalakifi, der Name der gemacliten Zahnlücke, ist also zu geben mit „Wahrzeichen
des Ursächers des Todes", weil nach älteren Mythen der Bantu diese den Tod als durch die
Zähne in den Menschen hineingegangen sich gedacht haben.
Auch alte Ovaherero nannten nach BrinJicr ihre Zahnlücke Oru vara ruonnisisi, was
ganz gleichbedeutend ist mit Oschivalakifi.
Die Sage bezüglich der bezeichneten Zahnlücken heisst bei den Ovambo so: ,.In die
obere Lücke /\, wie bei den Aaschimba-Ovaherero, ging ,.Omusisi-princeps mortis" hinein,
kam aber nicht wieder heraus, weil die Aaschimba (Unglücklichen) keine Oscheelo unten haben."
Deshalb sind die Ovambo schlauer gewesen und haben das Oscheelo unten gemacht,
damit der Feind auch herausgehen kann; sie sind daher „Aujamba" — „Glückliche." Hier
haben also Sprach- und Wortelemente, die diese Sitte sprachlich ausdrücken, zur Entdeckung
des mythischen Hintergrundes geführt.
Die einzelnen Handlungen, die in der Vorzeit allmählich aus Gefallsucht, der Zweck-
mässigkeit, der Lebensweise oder aucli falschen Vorstellungen entstanden sind, werden im
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